Die Sage der „Wueti-Weiber“ (Wuäti´s Weiber) 

Zur Zeit der Hungerjahre lebte ein armes Weib in der unteren Geißgasse zu Tuttlingen. Ihr Mann war vom Blitz erschlagen worden und hinterließ ihr vier Kinder. Sie hatte einen Hausteil und konnte sich eine Ziege halten, deren Futter sie morgens auf den Öden oder im Brachösch holte, bevor sie zum Taglöhnern ging. An arbeitslosen Tagen aber verdiente sie ihren Unterhalt durch Spinnen und Stricken und konnte sich auf diese Weise mühselig durchs Leben schlagen. 
 
Nun aber brachen teure Zeiten und Kriegsjahre herein. Die Not im Hause der Witwe war daher groß, besonders weil die hungrigen Mäuler ihrer vier Kinder viel Brot verlangten, das so rar wurde wie Gold. Die Kinder bekamen täglich ein paar dünne Scheiben vom Laib geschnitten, bevor die Mutter an die Arbeit ging. Das Brot wurde wie das Geld im Kasten verschlossen. Die übrige Zeit mussten sich die Waisen mit Milch begnügen, welche die Ziege gab. 
 
Wenn es im Hochsommer zu dämmern anfing, machte sich das Weib mit einer Nachbarsfrau auf den Weg, um so lange zu grasen, bis die Morgenglocke läutete. Zu Hause gab sie ihren Kindern dann Brot und Milch und schritt mit nüchternem Magen in ihr Diensthaus, wo sie ihren ersten Hunger stillen konnte.  
 
Eines Tages kehrte sie nach Feierabend heim und fand ihren Kasten erbrochen, in dem sie das Brot aufzubewahren pflegte. Ihr zwölfjähriger Sohn gestand, daß er die Tat verrichtet habe. Weil seine jüngeren Schwestern vor Hunger mit dem Weinen nicht hätten aufhören wollen, habe er die Axt genommen und die Kastentüre aufgebrochen. Als die Kinder den Brotlaib gesehen hätten, habe sie der Jähhunger überwältigt, so daß sie alles Brot aufessen mussten. Voll Sorge ging daher das Weib nochmals zu dem reichen Kaufherrn, bei dem sie tagsüber gewaschen hatte, um sich ihre Schulden abzuverdienen. Sie bat ihn dringend um einen weiteren Vorschuß. Der Kaufmann aber schlug ihr die Bitte mit der Begründung ab, daß er bald bettelarm wäre, wenn er allen Wünschen um Vorschuß nachkäme. 
 
Nach einer schlaflosen Nacht machte sich die sorgenvolle Mutter mit der Nachbarin auf den Weg, um auf den Öden am Witthoh Gras zu holen. Es war eine gewitterige Nacht gewesen, daher hatte sich ein dichter Nebel gebildet. Als die Weiber oben auf die Höhe der Witthohsteige in die Nähe des „Radschuhs“ gelangt waren, verirrten sie sich in dem Nebel. Der Tag fing eben an zu grauen. Doch die zwei Weiber wußten nicht, wo sie sich befanden. Plötzlich leuchtete vor ihnen ein heller Schein mitten in den Nebelschwaden auf, der immer größer wurde. Aus dem feurigen Glanz tauchte vor ihnen ein prächtiges Schloß auf, das zwei mächtige Flügelpforten in seiner Mitte hatte. Diese standen wie zwei riesengroße Scheuertore weit offen, so daß man in einen prächtigen Saal schauen 
konnte. In diesem stand ein breiter Herd, auf dem in großen Kesseln köstliche Speisen dampften. Über dem Kamingeschoß war blitzblankes Geschirr zu sehen. Die hungrigen Weiber rochen mit Wollust den Dampf der Speisen und traten voll Verlangen näher an das Haus heran. Sie schauten auf der anderen Seite des Saales lange Tische, an denen Gäste wie bei einem Hochzeitsmahle saßen. Den Weibern trat ein riesengroßer Mensch entgegen. Er winkte ihnen und wies ihnen am untersten Ende der Tafel zunächst dem Eingang zwei leere Plätze an. Dann setzte er sich an das oberste Ende des Tisches. Daraufhin trugen Diener köstliche Speisen auf und reichten sie herum wie bei einem Hochzeitsmahl. Beim Essen herrschte lautlose Stille. Die Weiber stillten ihren Hunger und vergaßen beim Essen ihre Sorgen. Dann wurde Wein herumgericht, den die Weiber hastig tranken, weil sie von den Speisen brennenden Durst verspürten. Der starke Wein stieg ihnen schnell in den Kopf. Sie fühlten sich plötzlich wie betrunken und vernahmen von draußen heftiges Sausen und Brausen, wie wenn ein schreckliches Gewitter nahen würde. Die Wände fingen an zu zittern, so stark wehte der Sturmwind. Auf einmal durchfuhr ein greller Blitzstrahl den Saal. Der mächtige Bau erzitterte von dem nachfolgenden Donnerschlag in seinen Grundmauern. Die beiden Weiber verfielen in eine tiefe Ohnmacht.  
 
Als sie wieder zu sich kamen, befanden sie sich auf einer Wiese, die voll saftigen Grases stand. Sie hörten unten im Tal die Morgenglocke läuten. Die Frauen dankten unserem Herrgott, daß er sie so wunderbar gerettet hatte. In kurzer Zeit waren ihre Futtersäcke voll. Als sie daheim geleert wurden, fanden sie unten in den Säcken Geldstücke, wovon die Weiber mit den Kindern über die Hungerzeiten leben konnten. Die Weiber erzählten in einer Lichtstube ihr Erlebnis und erfuhren von einem altem Weiblein, daß sie in „s`Wuätis Haus“ gewesen waren.